Lippische Landeszeitung, Nr. 73
Ein schwerer Unfall
Einige oder sogar viele von
Ihnen meinen vielleicht, in einem medizinisch und sozial optimal
ausgestatteten Land zu leben, in dem alles nur Mögliche für ein krankes
Kind und dessen Familie getan wird – weit gefehlt! Leider mußten auch
wir uns vor fast genau einem Jahr eines Besseren belehren lassen:
Unser sechsjähriger Sohn
Jan-Pascal wurde durch einen tragischen Unfall jäh aus einem fröhlichen
und hoffnungsvollen Leben gerissen, dann dank technischer und
medizinischer Höchstleistung ins Leben zurück-geholt und schließlich
ohne jegliche Hilfe und Perspektive seinem Schicksal überlassen. Nach
der Betreuung auf der Intensivstation tat sich für uns, wie auch leider
für die meisten anderen Hirnverletzten und deren Angehörige in
Deutschland, ein riesiges Versorgungsloch auf.
Der durch den Unfall bedingte
Hirnschaden, so hieß es, sei irreperabel, die Chancen auf Heilung gleich
Null. Das Kind sollte schon drei Wochen nach dem tragischen Ereignis zum
Pflegefall werden. Dies sollte wohl sein neues, zweites Leben werden –
in einem Heim dahinvegetierend, vollgepumpt mit Beruhigungs-mitteln,
ohne Liebe und ohne Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft. Dies konnten
und können wir als Eltern nicht zulassen!
Maßlos traurig, enttäuscht und
auch wütend über Ärzte, Kliniken, Institutionen und sogenannte
“Reha-Zentren”, übernahmen wir selbst zu Hause die gesamte
Verantwortung, Pflege und Therapie nach einer amerikanischen, einzig
erfolgversprechenden Methode. Die Krankenkasse lehnt die Kostenübernahme
der Therapie ab. Die Finanzierung des Lebensunterhalts wird
“großzügigerweise” vom Sozialamt als zurückzuzahlendes Darlehen gewährt.
Da sechs Monate nach dem Unfall
unseres Sohnes unser Baby zur Welt kam, war es meinem Mann bisher
unmöglich, seiner Arbeit als Beamter nachzugehen.
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Sonnabend, 27. März 1993
Das monatliche Pflegegeld
beträgt für unsere Familie ganze 400 Mark. Was aber würde alternativ
eine lebenslange Klinik- oder Heimunterbringung die Krankenkasse oder
den Staat kosten? Diese Kosten würden im anderen Fall anstandslos
übernommen.
Wer sein Kind liebt und ihm ohne
Einschränkung zu Fortschritten verhelfen will, wird in unserem Staat
offenbar bestraft und er begibt sich in eine immense Verschuldung. Man
wird unverschuldet Opfer von Bürokratie, Paragraphenreitern und
Ignoranten und muß sich ständig für sein Tun rechtfertigen.
Gut, dass uns die große Hilfe
und Spendenbereitschaft von Freunden, Bekannten, Nachbarn, Vereinen und
so vielen anderen den Glauben an Menschheit und Menschlichkeit bewahren
konnten. Denen allen möchten wir heute nochmals herzlich danken, dafür,
dass sie mithelfen wollen, einem Kind wieder eine Zukunft zu
ermöglichen. Jedes wiedergewonnene Lächeln unseres Kindes gibt uns
Kraft, niemals aufzugeben und läßt uns unsere große Traurigkeit für
einen kleinen Moment vergessen.
Unser Glaube an den deutschen
Sozialstaat ist leider erheblich erschüttert worden. Hoffentlich bleiben
möglichst vielen von Ihnen ähnliche Erfahrungen erspart.
Bärbel Hiltscher
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