Jan Pascals Geschichte

Zeitungsberichte

 

Menschen in unserer Gemeinde

Gemeindebrief der ev.-luth. Kirchengemeinde Bad Salzuflen, Nr. 138 (Victoria Tintelnot)

 

Ich kenne dieses Gefühl, werde unsicher, will nicht neugierig erscheinen, nicht indiskret sein und gucke schließlich weg. Wann? Wenn mir z. B. ein offensichtlich schwerbehinderter Mensch im Rollstuhl entgegenkommt.

 

Bärbel Hiltscher kennt die andere Seite: „Warum gucken sie Janni nicht an“, fragt sie, er war doch nicht immer so“. Nein, bis zu seinem 7. Lebensjahr war Jan-Pascal Hiltscher ein ganz normales Kind. Ein Foto zeigt ihn mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Nadja: Ein hübscher kleiner Junge mit blonden Haaren. Heute ist er 15 Jahre alt, liegt die meiste Zeit auf einer großen gelben Unterlage, seine Arme und Beine sind angewinckelt, wirken irgendwie verspannt: Jan-Pascal ist Spastiker. Seit er vor neun Jahren beim Spielen in die Bega fiel, ist er schwer hirngeschädigt.

 

 Bärbel Hiltscher erinnert sich, wie sie damals am Ufer stand, von dem Freund herbeigeholt, der nur gestammelt hatte: „Er ist in den Fluss gefallen, er ist weg, er ist ertrunken“. Die Bega führte Hochwasser und nur seine Jacke schwamm auf der Wasseroberfläche. Erst später fand ihn die Feuerwehr, da war er bereits hirntot. Nach langen Wiederbelebungsversuchen und nachdem alle Geräte schon abgeschaltet worden waren, begann sein Herz wieder zu schlagen. Monatelang lag er – völlig bewegungslos – im Wachkoma. Fünfeinhalb Monate später kam er nach Hause: Er konnte weder schlucken noch sprechen, sich nicht bewegen und hatte starke Krämpfe. „Haus oder Heim“ hatten die Ärzte in Mainz gesagt und jede Hoffnung auf eine Besserung ausgeschlossen.

 

Reinhard Hiltscher, bis dahin Postbeamter im mittleren Dienst, hatte sich beurlauben lassen, dazu stand die Geburt des dritten Kindes Tim-Fabian – heute ist er acht – bevor. Das eben erst begonnene Fernstudium hatte Bärbel Hiltscher abgebrochen. „Wir haben uns immer gesagt, Janni hat seine Chance bekommen, wir schaffen das schon“, erzählt sie.Heute nimmt Jan-Pascal wieder an seiner Umgebung Anteil: Seine Augen richten sich auf den Besuch, er hört zu, lacht. Die Mahlzeiten dauern lange, weil das Schlucken schwer ist. Sechs Stunden pro Woche arbeitet ein Lehrer mit ihm, zeigt ihm Karten mit großer Schrift, liest vor. Mit Hilfe eines Computers hat Jan-Pascal schon mit seiner Familie

kommuniziert, früher ist er auch gerobbt und die

April – Juni 2001

 

Gartenrutsche heruntergerutscht. Zur Zeit geht das nicht. Mit Hilfe der Doman-Therapie, einer amerikanischen Behandlungsform, die bei uns nicht anerkannt und nicht finanziert wird, hat er diese Fortschritte gemacht. Aufenthalte in den USA und zuletzt auch in der Ukraine wurden durch viele Spenden möglich. Freunde der Familie haben vor Jahren einen gemeinnützigen Verein gegründet, der helfen soll, alle therapeutischen Möglichkeiten auszuschöpfen. „Die Leute in Salzuflen haben viel für uns getan“, sagt Bärbel Hiltscher, aber wir kommen jetzt an unsere Grenzen. Bis zu zwölf Stunden täglich haben ihr Mann und sie, oft noch unterstützt durch einen ehrenamtlichen Helfer, mit ihrem Kind Atem- und Bewegungsübungen gemacht und seine Intelligenz geschult.

 

Dass er eines Tages ein von uns unabhängiges glückliches Leben führen kann, haben wir uns immer für ihn gewünscht“, sagt die Mutter. Zur Zeit nehmen die motorischen Probleme zu – nur stundenlange Bewegungsübungen können z. B. der Versteifung der Arme entgegen wirken. Seit neun Jahren hat die Familie keinen Urlaub gemacht. „Nur durch tägliche Übungen haben wir eine Chance, das erreichte Niveau zu halten“, erklärt Bärbel Hiltscher. In diesen Haushalt, der so sehr von Jan-Pascal geprägt ist, bringen vor allem die beiden jüngeren Geschwister ein bisschen normalen Kinderalltag. Janina, vier Jahre alt, geht an diesem Tag nicht in den Kinder-garten, sie läuft ein bisschen hin und her und guckt bei Frau Meierjohann aus Heidenoldendorf zu, die der Familie seit Jahren freitags hilft. Tim-Fabian sitzt an seinem Schreibtisch in der Diele und schreibt schöne ordentliche Buchstaben in sein Schreibheft. Zum Karneval will er als Dinosaurier gehen, erzählt er.

 

„Was uns fehlt, sind Kontakte“, sagt Reinhard Hiltscher und wünscht sich vor allem Besuch von Gleichaltrigen für seinen Sohn. Zwar hat Jan-Pascal eine große Familie um sich, und gewiss sorgen die Geschwister für ein gewisses Maß an Normalität in seinem Leben; aber außer einem alten Freund aus dem Kindergarten besucht ihn niemand. Die Eltern sind nach vielen Jahren verletzlich und manchmal auch überempfindlich geworden. „Wir leben ziemlich isoliert, haben kaum Freunde“, erzählt die Mutter. Für die Zukunft wünscht sich Bärbel Hiltscher, dass es gelingt, Behinderte besser in die Gesellschaft zu intregieren. „Die nimmt man doch gar nicht wahr draußen auf der Straße, die sind doch alle in Sondereinrichtungen“, sagt sie.